Lebendige Geschichte

Lebendige Geschichte

Geschichtliche Übersichten bleiben kühl, distanziert, in der Vergangenheit verhaftet. Erst wenn wir erkennen, dass die darin erwähnten Gestalten in Tatsache unsere Verwandten sind, unsere Altvorderen, die übernahmen, prägten und weitergaben, was unser Denken und Handeln heute bestimmt, werden sie lebendig. Sie zu verstehen, bedeutet uns zu verstehen.

Als die Feste Klaus 1170 das erste Mal urkundlich erwähnt wird, ist sie schon ein Denkmal für alles, wofür der Bergfels steht, auf dem sie sich niedergelassen hat. Quellen, Straßen, Flüsse und natürlich gegebene Zufluchtsorte beharren an ihrem Ort, werden immer wieder entdeckt und gestalten ihre Bedeutung in neuer Weise, so wie sie gebraucht werden.

Zuerst eine Schutzhöhle am Wegrand, in der man sich bergen kann und gleichzeitig den Überblick behält; dann ein Schutzbau, ein Wehrturm, schließlich die Burg. Inzwischen sind Jahrhunderte vergangen. Kelten, Römer, die Horden der Völkerwanderung sind vorbeigezogen oder haben sich in Reichweite des Zufluchtsortes niedergelassen, sind Bevölkerung geworden. Der Schutzort am Wege hat sich angeboten für Geborgenheit und Trutz; hat eingeladen und abgewehrt. Weil am Wege gelegen, ist immer nur Zeit für den Zweckbau; kaum Gelegenheit für Verspieltheiten, weil eine Aufgabe zu erfüllen ist. Dabei aber nimmt er schneller als die Umgebung Botschaften auf, nimmt die Spuren der vorüberziehenden Geschichte an. Damit wird er zum Vorboten der Wandlungen und Werte, die dann heimisch werden in den Höfen und Weilern, Tälern und Wäldern der Umgebung.

Als die keltische Welt von der römischen abgelöst wird, hat sie damit ahnungslos die Wege geöffnet für das kostbarste Erbe des Altertums, das alle kommenden Stürme überdauern wird: Den Glauben an den einen Gott, der sich in jenem Jesus von Nazareth offenbart hat, und das Rechtswesen, das, egal wie oft zerbrochen, wieder Ordnung schaffen wird. Als germanische und slawische Sippen, Stämme und Völkerschaften in Bewegung geraten, neue Heimat suchen, bringen sie nicht nur ihre Welt mit, sondern nehmen die neu gefundene auf, kommen zur Ruhe. Überkommene und mitgebrachte Werte finden Veredelung. Die Kunst der guten Mischung wird zum Wesen eines neuen Volkes. Die Burg am Wegrand ist Werkzeug und Zeuge der Verwandlung.

Als Renaissance und Humanismus über die Alpenpfade drängen, gebären sie nicht nur Baustil und Lebenskunst der anbrechenden Neuzeit, sondern erzwingen Reformation und Neuorientierung der erstarrten Traditionen. Der alte Glaube sucht nach neuem Ausdruck, noch ohne zu wissen und zu wollen, dass er damit eine zweite Kultur hervorbringen wird, die trotz aller unseligen Kämpfe und Widerstände für immer zum Charakter des Volkes gehören wird: das Evangelische.

Die Burg am Wege wird des Neuen zuerst gewahr, nimmt den Auftrag an, es zu verbreiten und zu beschützen. Sie wird nicht nur in Worten und Werken zum Zeugen, sie empfängt auch die neue Gestalt: Ein Renaissance-Schloss und eine Bergkirche, als Bet- und Predigthäusel evangelischer Gläubigkeit. Als die Stürme der Gegenreformation vorbei sind, trägt sie das Nachfolgekleid: das Schloss eine Barockfassade, das Bethäusel ist zur katholischen Pfarrkirche geworden. Aufbruch, Umbruch, Rückeroberung, Niedergang und Neuanfänge spiegeln sich auch im Wechsel der Besitzverhältnisse wider.

Als der ursprüngliche Zweck keine Notwendigkeiten mehr erkennt, die alten Werte in Gefahr sind zu verfallen; als es aussieht, als ob die Geschichte ihre Seiten über einem alten Denkmal schließen will, erhebt sich die Burg von neuem, wird wieder zur Fluchtburg am Wegrand. Anders und doch auch so wie schon immer in ihrer Geschichte, wie es am nötigsten gebraucht wird.

Als es Zeit wird, an die guten Werte erinnert zu werden, unter deren Schatten allein Recht, Ruhe und Frieden gedeihen können und erhalten bleiben, hat sie es schon erfasst und ist bereit. Wie zumeist in ihrer Geschichte als Vorbote mahnt sie zur Einheit statt unseliger Zerrissenheit, zum Glauben, der sich in der Liebe zeigt. Wie es der Jetztzeit gebührt, führen Wege aus allen Windrichtungen zu ihr und von ihr aus in viele Teile der Welt. Auch darin ist sie wieder Gestalter und Teilhaber der sie umgebenden Kultur aus Altem und Neuem, Vergänglichem und Unvergänglichem, Zeitlichem und Ewigem…